Freitag, 16. Oktober 2015

BWK_Rückblick




Lieb und teuer: 

der Kämmereistandort Blumenthal


Kritische Fakten und die Sicht der Werkszeitung „Sir Charles“





Als nach einem langen Überlebenskampf die Bremer Woll-Kämmerei (BWK) 2009 die Produktion in Blumenthal eingestellt hat und 2010 auch als Gesellschaft aus dem Handelsregister gelöscht wurde, war das für den Nordbremer Stadtteil Blumenthal ein harter wirtschaftlicher und sozialer Einschnitt.

Daher gab es auch Erklärungsversuche für dieses Ende eines einstigen Weltunternehmens. Viele sahen den Untergang der BWK im Rahmen der europäischen Textilkrise, die durch das Kostengefälle vor allem gegenüber asiatischen Standorten und nicht zuletzt die wirtschaftliche Öffnung Chinas ausgelöst wurde. Die BWK teilte damit das Ende anderer einst führender Textilunternehmen wie den Nachfolgebetrieben der Nordwolle in Delmenhorst, der Wollkämmerei in Döhren bei Hannover, der Ravensberger Spinnerei in Bielefeld und nicht zuletzt den Aktiengesellschaften im Augsburger Textilviertel, also etwa der Augsburger Kammgarnspinnerei (AKS) und der Neuen Augsburger Kattunfabrik (NAK).

Andere Beobachter wie der gegenwärtige Blumenthaler Ortsamtsleiter bieten eine abweichende Erklärung an, die sich mit der Moral der Eigentümer und des Managements beschäftigt. "Bei aller Würdigung der BWK als industrieller Motor für den Stadtteil darf nicht vergessen werden, dass die Gier der Aktionäre und die Skrupellosigkeit mancher Vorstände den Niedergang der BWK und damit die großen Probleme des Stadtteils überhaupt erst ermöglicht haben."

Schicksal und moralische Unzulänglichkeiten von Aktionären und Management, wie sie auch gern von vulgärmarxistischen Kapitalismuskritikern als beliebte Klischees benutzt werden, sollen also einen komplexen betriebswirtschaftlichen Entscheidungsprozess analysieren.

Wenn man genauer hinseht, kann man jedoch auch zu anderen Schlussfolgerungen gelangen...


Die Position der BWK auf dem globalen Kämmereimarkt


         
Der globale Markt für Kammzüge 1997 (Quelle: BWK-HV 1997)



Auf der Hauptversammlung 1997 der Bremer Woll-Kämmerei sah sich das Unternehmen nach den Worten des damaligen Vorstandsvorsitzenden unter den fünf größten Kämmereien der Welt gut aufgestellt. Als zentraler Wettbewerbsvorteil wurde dabei neben dem westeuropäischen Standort die Größe des Blumenthaler Werks herausgestellt, die eine einmalige Fixkostendegression erlaubte. 

Sucht man heute nach dem Schicksal dieser fünf Großen, stößt man auf ein unterschiedliche Entwicklungeschichte. Die Privatfirmen Groupe Dewavrin
G. Modiano Ltd und Standard Wool sind weiterhin in den alten Wollregionen Yorkshires und Nordostfrankreichs vertreten, während für Chargeurs Wool als Teil des französischen Chargeurs-Konglomerats während der ganzen Zeit Geschäftsberichte veröffentlicht und Börsenkurse gestellt wurden, ja, sogar mehrfach Dividenden ausgeschüttet werden konnten.

Von den fünf Großen hat nur die BWK die revolutionären Veränderungen der Kämmereiindustrie zu Beginn des neuen Jahrtausends nicht überlebt. Das wirft fast zwangsläufig die Frage auf, wie es zu diesen abweichenden Entwicklungen gekommen ist und noch direkter, welche Entscheidungen zum Ende der BWK und damit zum Verlust der Arbeitsplätze und des Eigenkapitals geführt haben. Dabei ist diese Werksschließung sogar besonders überraschend eingetreten, weil die BWK selbst ihre beiden Standorte in Blumenthal und Geelong für besonders modern und effizient gehalten hat.


Der Mythos vom aufopferungsvollen Tod der BWK



Das Ende der Bremer-Woll-Kämmerei, das den Bremer Stadtteil Blumenthal in einen vieljährigen Schockzustand versetzt zu haben scheint, wird von vielen Betroffenen weiterhin so interpretiert, wie sie es über Jahre hinweg aus dem Mund des Managements gehört haben: es wurde alles getan, um möglichst viele Arbeitsplätze in Blumenthal möglichst lange zu erhalten. Aber unvorhersehbare Änderungen auf dem globalen Wollmarkt haben verhindert, dass sich in der hoch effizienten Kämmerei an der Weser weiterhin unter wettbewerbsfähigen Bedingungen Kammzüge produzieren lassen. Das Ende der BWK lag daher nicht etwa an fehlender Kompetenz, wie es dem Vorstand von Aktionären auf den letzten Hauptversammlungen vorgeworfen wurde. Vielmehr erklärte etwa der vorletzte Vorstandsvorsitzende Harder im Jahre 2000, dass er freiwillig seinen Hut nehmen würde, wenn alle anderen Kämmereien Gewinne machen würden und nur die BWK Verluste.

Gleichzeitig muss man jedoch feststellen, dass der größte Wettbewerber der BWK weiterhin mit gekämmter Wolle Geld verdient und sogar neue Kämmereien und Wäschereien auch außerhalb Chinas in den kritischen Jahren der BWK entstanden sind. Man kann also die Hinterlassenschaft der BWK nicht als ein Naturereignis wie ein Erdbeben oder einen Tornado sehen. Das gilt sowohl für die im Endeffekt doch verlorenen Arbeitsplätze, deren Besitzer vorher lange Zeit zittern und auf tariflich zustehendes Einkommen verzichten mussten, als auch das verbrannte Eigenkapital der Aktionäre, zu denen auch die Eigentümer von Belegschaftsaktien gezählt haben dürften. 

Diese finanziellen Verluste für die Mitarbeiter und Eigentümer sind jedoch nur ein Teil des Erbes, das die BWK in Blumenthal hinterlassen hat. Auch die vom Management mehr oder weniger herbeigeführten Standortentscheidungen für ein Einkaufszentrum an der Weser, das für den Stadtteil Blumenthal peripher liegt und mit dem alten Zentrum konkurriert, und für Entsorgungseinrichtungen in der Nähe von zentralen Wohngebieten, die zu vielen Beschwerden aufgrund von Emissionen geführt haben, dürfen in einer Gesamtbilanz der Unternehmensentscheidungen nicht fehlen, denn sie haben für einen langen Zeitraum städtebauliche Weichen in Blumenthal gestellt. 


Die Rationalität betriebswirtschaftlicher Entscheidungen


Nachdem inzwischen einige Jahre ins Land gegangen sind, kann man die Frage nach der Notwendigkeit des Untergangs der BWK und damit die Suche nach Entscheidungen, die man auch anders hätte treffen können, mit einigem Abstand und damit emotionsloser stellen.


Menschen entscheiden sich nicht immer rational, sondern werden häufig durch eine Reihe von psychischen Faktoren beeinflusst, die Außenstehende und Experten zumindest im Nachhinein als Fehler bezeichnen. Diese praktische Erfahrung des Alltagslebens wurde von empirischen Entscheidungsforschern und Finanzwissenschaftlern untersucht, die eine Reihe von Heuristiken herausgearbeitet haben, also von einfachen Regeln, die wir alle in unserem Alltagsleben in komplexen Situationen anwenden, um trotz fehlender Informationen nicht lange jedes Für und Wider abwägen zu müssen, sondern ein rasches Ergebnis erzielen zu können. 

Ein Beispiel ist etwa die Frage, ob wir ein altes Auto nochmals reparieren oder lieber stattdessen ein neues Modell anschaffen wollen. Offen sind dabei vor allem die in der nächsten Zeit anfallenden Kosten für Reparaturen, die sich bestenfalls mithilfe von zurückliegenden Erfahrungen und Durchschnittswerten schätzen lassen. 


Eine formal ähnliche, wenn auch erheblich komplexere Entscheidung hatte das Management der BWK zu treffen, als nach dem Ausbau des Unternehmen zu einer Gruppe mit einem größeren Standort in Australien die Zukunft des Werkes in Blumenthal auf den Prüfstand gestellt wurde.

Bei einer Durchsicht der Geschäftsberichte, der Interviews des Management in der Wirtschaftspresse und nicht zuletzt der Werkszeitung "Sir Charles" seit Mitte der 1990-er Jahre stößt man auf eine Reihe von Einschätzungen, die den Hintergrund für die konkreten Entscheidungen damals abgegeben haben. So sieht es zumindest aus, wenn man die veröffentlichten Aussagen für die tatsächliche Einschätzung des Vorstands hält.


Die Vermessenheitsverzerrung: Wir haben die größte, modernste und effizienteste Wollkämmerei der Welt



     Die BWK von Blumenthal aus gesehen (Quelle: Geschäftsbericht 2002 (Archivierte Webseiten)



Obwohl die Geschäftsergebnisse seit 1993 nicht gerade viel Freude machten, war und blieb das Management stolz auf seine größte Wollkämmerei der Welt. Wie anscheinend die Titanic aus physikalischen Gründen als unsinkbar galt, glaubte das BWK-Management dasselbe im betriebswirtschaftlichen Bereich von seinem Unternehmen. Man betonte seine Vorteile als größte Wollkämmerei der Welte beim Skaleneffekt der Kostendegression als größte Wollkämmerei der Welt, die auch gleichzeitig die modernste war.

Dabei scheint niemand die Frage aufgeworfen zu haben, ob diese Selbsteinschätzung in einer Zeit fallender Wollpreise, eigener roter Zahlen und der Schließung von anderen Kämmereien nicht eine Selbstüberschätzung war, da Größe nicht immer ein Vorteil ist. Das gilt etwa dann, wenn die Kapazitäten nicht ausgelastet sind und damit dem großen Fixkostenblock nur relativ geringe Umsätze und Erträge gegenüberstehen.



Die Verlustaversion: Unser Standort Blumenthals war und ist (fast) optimal



Wie Psychologen festgestellt haben, gewichten Individuen zahlenmäßig gleich hohe Gewinne und Verluste unterschiedlich. Falls man beispielsweise einen Wetteinsatz von 1.000 € verliert, lässt sich das damit verbundene Verlustgefühl nicht durch das positive Gefühl ausgleichen, das mit einem gleich hohen Gewinn verbunden ist.


Dieser unterschiedliche Grad von Betroffenheit führt dazu, dass jeder Verluste möglichst vermeiden möchte. Das bedeutet in der Praxis in den Regel den Versuch, Verluste, nicht zu realisieren und damit endgültig werden zu lassen.

Wenn jemand also nach langen Analysen und mit guten Gründen die Aktien eines Unternehmens U-AG gekauft hat oder einen Betrieb an einem Stadtort A besitzt,
Nachdem ein Investor die ersten Verluste in der Hoffnung ertragen hat, dass es sich nur um eine kurzfristige Krisenzeit handelt, wird er aufgrund der Verlustaversion 
Verluste höher zu gewichten als Gewinne. 

Beispielsweise ärgert man sich über den Verlust von 100 € mehr als man sich über den Gewinn von 100 € freut. Die Entdeckung des Phänomens geht auf Kahneman und Tversky zurück.


Die Realitätsleugnung: Unsere Kritiker sehen den Wollmarkt falsch
 



Wenn das ursprüngliche überhöhte Selbstbewusstsein und die Angst vor dem Eingestehen anfänglicher Verluste die Rendite eines Investments bereits erheblich beeinträchtigt haben, versuchen die betroffenen Investoren häufig die Fakten mehr oder weniger zu leugnen. Das kann sogar dazu führen, dass man abweichende Entscheidungen anderer Investoren oder Wettbewerber für falsch erklärt und allen Unkenrufen zum Trotz unbeirrbar an seinem fragwürdigen Kurs festhält. 

Psychologen und Psychoanalytiker sehen in diesem Fall die Wirkung eines Abwehrmechanismus, der Bedrohungen des Ichs vor Angriffen durch die Wirklichkeit schützt, indem er die Realität selektiv wahrnimmt und sogar die Fakten, die in Frage stellen, völlig leugnet. Die Managemententscheidungen beruhen also nicht mehr auf einer möglichst sachlichen und objektiven Beurteilung des Marktes und der Position des eigenen Unternehmens. Vielmehr reduziert man seinen Blick auf das, was man sehen will. Informationen, die für eine eher abweichende Sicht sprechen, werden hingegen als bedeutungslos oder sogar falsch interpretiert.

Gerade bei einer Beurteilung des besonders volatilen Wollmarktes kann eine derartige Fehleinschätzung nur schwer rechtzeitig erkannt werden, da es immer zu Änderungen der Wollpreise kommt, die zu Umsatzschwankungen bein den Kämmereien führen. Damit sind, wie die Geschichte der BWK in vielen Jahrzehnten gezeigt hat, immer wieder Dividendensenkungen für die Aktionäre und Kurzarbeit oder sogar Entlassungen für die Beschäftigten verbunden. 

Hinter globale Veränderungen der Wollwirtschaft lassen ich daher zunächst die Abschwungsphasen derartiger Zyklen vermuten. Gerade der Wollmarkt begünstigt daher aufgrund einer Volatilität Fehleinschätzungen. Manage und betroffene, die an vorangegangenen Entscheidungen beteiligt waren, können daher leicht die Wirklichkeit so interpretieren, dass sie sich damit vor Zweifeln an ihrer Kompetenz und vielfältigen Ängsten schützen. Die Psychoanalyse spricht daher in diesem Fall von einem speziellen Abwehrmechanismus, der eine Selbst- und Fremdtäuschung darstellt. 

Im Folgenden soll versucht werden, das konkrete Entscheidungsverhalten des BWK-Managements in einer ganz besonderen Weise darzustellen. Dabei geht es nicht nur um eine Beschreibung entsprechenden den Berichten in den Medien, so vor allem der Werkszeitung "Sir Charles" und der Wirtschaftspresse, worin sich größtenteils eine Selbstdarstellung gegenüber den Mitarbeitern, den Aktionären und ganz generell de Öffentlichkeit widerspiegelt.


Die Verteidigung der alten Strategie


Zeitlich weitgehend parallel zum Aufbau der BWK-Gruppe durch den Bau einer Kämmerei in Australien startete das Management ein zweites großes Projekt: die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Blumenthaler Kämmerei.

Im Zuge dieses Vorhabens begann der neue Vorstandsvorsitzende Harder seine Amtszeit 1996 mit einem Workshop.

Die BWK wurde dabei nicht als Teil der globalen Weltwirtschaft gesehen, da offenbar nicht einmal ein Vergleich mit den Stärken und Schwächen der Wettbewerber betrachtete wurden. Stattdessen war durch die Fragestellung und das zur Verfügung stehend Informationsmaterial von vornherein der Blick offenbar stark auf eine Steigerung der Effizienz am Standort Blumenthal ausgerichtet. Typisch für Einschätzung des Vorstandes war damals die optimistische Aufschrift auf einem Bumerang, der an die Teilnehmer der Hauptversammlung am 30. April 1997 verteilt wurde: "We are back".




Ein Pro-Blumenthal-Workshop



Grundlage hierfür dürfte eine Einschätzung des Vorstands gewesen sein, die der Prokurist Klaus Becker 1994 in der Werkszeitung Sir Charles" formuliert hat.
Danach war es damals „wirtschaftlich sinnvoll, Rohwolle von Australien hierher zu holen und hier zu waschen und zu kämmen. Die Frachtkosten sind für Rohwolle günstiger, da sie sich stärker zusammenpressen lässt und deshalb mehr davon in einen Container passt als von fertigem Kammzug."(SC, 1994, 22, 2)

Wichtiger aber ist das folgende Kriterium, dessen fehlende Beachtung vermutlich für das Überleben der BWK verhängnisvoll war. Darin wird ein sehr zentraler Zusammenhang für die Standortqualität von Bremen-Blumenthal aufgestellt: "Viel wichtiger aber ist die Nähe zur weiterverarbeitenden Industrie in Deutschland und in Europa, unseren wichtigsten Absatzmärkten."

Offenbar war es damals unvorstellbar, dass das Gros der weiterverarbeitenden Industrien, also die Spinnereien, Webereien und Nähereien, einmal aus großen Teilen Europa verschwinden würde. Aber das hat zweifellos nichts an einer erforderlichen Nähe der Wollkämmereien zu diesen Weiterverarbeiter geändert, wie es auch Klaus Becker als großen Voreil erklärt, weil so die "Kunden die richtige Qualität zum richtigen Zeitpunkt und in der richtigen Menge" erhalten und ihnen "darüber hinaus der Service" geboten wird, "den sie ... erwarten".

Noch war das in Europa der Fall, sodass 1994 die abschließende Folgerung zutraf: "Deshalb: in Blumenthal produzieren wir für Europa, in Geelong für Ostasien. (Becker, S. 2)


Vom 20. August bis zum 6. September 1996 führte die BWK in der 
Vegesacker Strandlust einen Workshop durch. Daran nahmen 90 Mitarbeiter teil, die nach dem Zufallsprinzip ausgewählt waren, womit also etwa jeder siebte der 720 in Blumenthal Beschäftigten unmittelbar einbezogen wurde. Von der Wahl gerade dieses Beteiligungsverfahrens muss man erwarten, dass auf diese Weise ein Ergebnis entwickelt werden sollte, hinter dem die Mitarbeiter sehr überzeugt und engagiert standen, da sie selbst an seiner Ausarbeitung und Beurteilung beteiligt waren.

Und so scheint es gewesen zu sein, da sogar durch Gespräche zwischen den teilnehmenden Beschäftigten und ihren Kollegen viele Anregungen eingebracht wurden und sich so die Beteiligung nach dem Schneeballprinzip erheblich erweitert hat. So berichten es zumindest einige Teilnehmer in der Werkszeitung.


       Workshop "Wir gestalten unsere Zukunft in Bremen" (Quelle: BWK-Geschäftsbericht 1996)




Vor- und Nachteile des Standortes Blumenthal nach dem Workshop

VorteileNachteile
Nähe zum KundenHohe Fremdenergiekosten
Hohe ProduktivitätRelativ hohe Personalkosten
Neuer Maschinenpark
Wollausrüstung (Filzfrei)
Gute Produktqualität
Verwirklichter Umweltschutz
Produktentwicklung (Supersoft)
Eigene Energieversorgung
Bezahlter Produktionsstandort
Chemiefaserproduktion am selben Standort
Niedrige Logistikkosten (Transport und Schnelligkeit)
 Quelle: Sir Charles 36, S. 6


Das Menetekel Augsburger Kammgarnspinnerei (AKS) 



Außerhalb dieser weitgehend abgeschotteten BWK-Welt vollzogen sich damals jedoch erhebliche Änderungen in der globalen Woll- und Textilwelt.
Die Kämmereindustrie ist ein Glied in einer Kette, die von der Wollproduktion bis zur Bekleidungsindustrie und dem Verkauf von Wolltextilien an die Kunden reicht. Daraus folgen auch die Vorgaben für ihre Standorte, da es wenig ökonomisch ist, ausschließlich für den Produktionschritt des Kämmens die Wolle an einen bestimmten Standort zu transportieren. So bieten sich praktisch nur Standorte in der Nähe der Produzenten oder der Weiterverabeiter, also vor allem der Spinnereien und Webereien sowie der Modeindustrie, an.


Dieser Zusammenhang wurde "Viel wichtiger .. ist die Nähe zur weiterverarbeitenden Industrie bei uns in Deutschland und Europa, unseren wichtigsten Absatzmärkten. Von he aus können wir unseren Kunden die richtige Qualität und zum richtigen Zeitpunkt und in der richtigen Menge liefern und darüber hinaus den Service bieten, den sie von uns erwarten." (Becker, Sir Charles, 22, S. 2)

Diese Situation begann sich jedoch Mitte der 1990-er Jahre allmählich zu ändern. Ein Beispiel für diesen Wandel ist die Situation eines der größten Kunden der BWK, der Augburger Kammgarnspinnerei (AKS).

In den 1990-ern war die AKS der fortschreitenden Globalisierung und der damit verbundenen Konkurrenz aus Billiglohnländern nicht mehr gewachsen.


Noch 1993 beschäftigte die AKS etwa 800 Menschen und war damals eine Tochtergesellschaft der damaligen Pegasus Beteiligungen AG Heidelberg, die heute unter Greenwich Beteiligungen AG firmiert .Vornehmlich belieferte die Augsburger AKS damals englische Webereien und die Autoindustrie.

Anschließend setzte in einer Reihe von Schritten ein deutlicher Niedergang ein. So kaufte 1996 der Unternehmensberater Ulrich Killikus 58 % der Aktien. Im Zuge der "Verschlankung" reduzierte man im folgenden Jahr die Beschäftigten auf 320. (TextilWirtschaft Nr. 45 vom 07.11.1996, S. 116)

Im Jahr 1998 begann der Mehrheitsaktionär das Ende der Augsburger Kammgarn-Spinnerei einzuleiten. Zunächt ing ds Untrnehmen dabei 1998 in ein Vergleichsverfahren. Daraus wurde die AKS mit einem Eigenkapital von 20 Mio. DM entlassen, allerdings ohne die Immobilien und Maschinen, die an die zur Daun-Gruppe gehörende Mehler AG verkauft und anschließend gemietet wurden. Damit waren die wertvollen Assets des Unternehmens von der schwierigen Entwicklung der Textilindustrie mit den Gefahren einer immer drohenden Insolvenz abgetrennt, während die AKS durch jährlche Mietzahlungen von 3,6 Mio. DM belastet wurde. Zudem setzte sch der Arbeitsplatzabbau im Zuge dieser Maßnahmen fort, indem 40 weitere Mitarbeiter entlassen wurden.

Die damit von der Kapitalseite her vorbereiteten weiteren Insolvenzen folgten in den Jahren 2002 und 2004. So musste zunächst 2002 die Spinnerei Insolvenz anmelden und wurde geschlossen, während die Färberei noch mit 90 Beschäftigten weiter arbeitete, bis auch sie zwei Jahre später insolvent wurde.


Siechtum und Untergang dieses einst größten Kunden der BWK hätte ein deutliches Warnsignal für das Management in Blumenthal sein müssen, da man nach dem Becker-Kriterium daraus zwangsläufig gravierende Schlussfolgerungen ziehen musste. 

Dieses Beispiel, das nicht allein stand, mahnt unmissverständlich deutlich, dass die Wollweiterverarbeiter West- und Mitteleuropa neue Standort außerhalb Europas gesucht und immer mehr auch gefunden hatten. Für die BWK ergab sich daher eigentlich nur die Frage, ob man auch in Deutschland untergehen oder der Auswanderung der Weiterverarbeiter folgen wollte, die ihr Produktion verlagert hatten. 

Die offene Frage konnte dabei nur sein, wann man diese Warnzeichen als fast sichere Hinweise auf die zukünftige Entwicklung datiert. Es gab schließlich allein ei der AKS nicht nur ein Menetekel, sondern mehrere zwischen 1996, 1998 und schließlich 2002. Dabei wurde diese Entwicklung anscheinend in Bremen völlig verdrängt, da bei dem Workshop 1996 in Vegesack noch die "Nähe zum Kunden" als Vorteil für die BWK gesehen wurde. 



Die Vision eines BWK-Elders-Konzerns


Als ein wenig rendietträchtiges Investment sahen zum damaligen Zeitpunkt offenbar die institutionellen Großaktionäre aus Bremen die BWK, die daher nach einer besseren Aufstellung ihres Unternehmens auf dem Wollmarkt und einem Käufer für ihre Aktien suchten.

Dabei fand man die australische Gesellschaft Elders, seit 1985 eine Tochter des Finanzkonzerns Futuris, der eine umsatzstarke landwirtschaftliche Tochter besitzt. Hier zeichneten sich rasch die bei Managern so beliebten horizontalen und vertikalen Synergiechancen ab. 

Das Kerngeschäft im Bereich Schafe und Wolle war und ist für Elders der Kauf und Handel der Wolle in Australien. Man besitzt so sehr gute und breite Geschäftsbeziehungen zu den Wollproduzenten, die die BWK nicht vorweisen kann. Auf diese Weise ließ sich als die Wertschöpfungskette bis zu den Wollfarmern erweitern, sodass man prinzipiell relativ leicht eine Wollproduktion nach Vorgaben der BWK erreichen konnte.

Die Vorteile für Elders lagen vor allem in den Wollhandelsgesellschaften der BWK, die einerseits einen Handel vor allem nach Europa für Elders erleichterten, andererseits durch Überschneidungen in Australien und Neuseeland Zusammenschlüsse mit den üblichen Kostenersparnissen erwarten ließen. 

Schwieriger war das für die BWK zentrale Kämmereigeschäft zu beurteilen, da hier Elders neben der BWK-Kämmerei in Geelong mit der Austop eine zusätzliche Kammzugherstellung im Portfolio hatte, aber keine Abnehmer außerhalb der eigenen Handelsgesellschaften, die allerdings kaum Kammzüge in Australien und Neuseeland verkaufen konnten, da es dort nur eine begrenzte Nachfrage gibt. Wären Kämmereien also ein profitables Geschäft gewesen, hätte man durch eine Konzentration auf wenige Standorte die Gewinne erhöhen können. Bei schlechten Geschäften bei der australischen Kammzugproduktion verkehrten sich diese möglichen Chancen jedoch in ihr Gegenteil. Die Verbindung zwischen der BWK und Elders hätte die Belastungen insgesamt erhöht, wobei es dann allerdings die offene Frage war, wer von den beiden Partnern die Verluste übernehmen musste.

Entscheidender für die zukünftige Entwicklung ist die Beteiligung von Elders am Aufbau eigener Kämmereien in Australien, die damals in Australien von der Regierung subventioniert wurden, um die auf der Rohwollverarbeitung verbundene Wertschöpfung im eigenen Land zu halten. Damit entstand für die BWK-Elders-Gruppe eine Ausweitung der  Kammzugerzeugung und damit ein Klumpenrisiko. 

Auf diese Weise verfügte man in den neuen Wollländern Asiens nur über ein starkes Standbein in Australien, wo jedoch die Lohnkosten noch höher als in Deutschland waren und die Mitarbeiter an das volatile Wollgeschäft nicht so gewöhnt waren, sodass man wie in Blumenthal Kurzarbeit und sogar kurzzeitige Entlassungen für fast normal hielt.

Da zunächst beide Gesellschaften rechtlich selbständig blieben, mussten die Synergien durch den Tausch von Beteiligungen erfolgen. Die dabei angewandten Zuordnungskriterieen waren dann für die folgenden Jahre von erheblicher Bedeutung. Dabei hatte die BWK von Anfang an eine sehr schwache Verhandlungsposition, da sie aufgrund der verlustreichen hohen GWC-Investition und die mehrjährigen operativen Verluste in Blumenthal wenig Kapital und nur sehr begrenzte Kreditlinien besaß. Man war damit auf einen finanzkräftigen Partner angewiesen, denn sonst hätte man im Jahre 2000 vermutlich und im Jahre 2004 mit Sicherheit Insolvenz anmelden müssen. 


Verbrennendes Eigenkapital: operative Verluste und sinkende Firmenwerte



Seit 1993, als die BWK den Aufbau eines großen Kämmereistandorts im Ausland wagte und das Unternehmen mit seinem Schwerpunkt in Blumenthal zu einer Gruppe ausbaute, musste das Management mehrfach rote Zahlen schreiben (vgl. Tabelle). 


Jahr
Jahresergebnis BWK AG
Jahresergebnis GWC
Anmerkungen
1993
-10,9 DM
-0,09 DM
Aufnahme der Produktion
1994
2,1 DM
-2,9 DM
Workshop mit Mitarbeitern

1995
-19,9 DM
-3,3 DM


1996
1,3 DM
-4,4 DM


1997
6,4 DM
5,9 DM
Ausschüttung der letzten BWK-Dividende

1998
-20,1 DM
-2,0 DM
Abwertung von Wollbeständen 
1999
-44,0 DM
-3,7 DM
Abschreibungen auf Tochtergesellschaften in Höhe von 32,3 Mio. DM 
2000
4,6 DM
-0,4 DM
Übernahme von 22,85 % des Grundkapital der BWK durch Elders und Einbringung von ca. 30 Mio. DM neuem Kapital
2001
-4,5 €
-1,7 €


2002
3,1 €
-15,9 €
Effektiver Start des Projektes 2004 durch Auftragsvergabe 
2003
9,0 €
-11,9 €
Schließung GWC
2004
-11,8 €

Rettung der BWK durch Kapitalmaßnahmen, wodurch Elders einen Anteil von 40,91 % erreicht 
2005
- 4,6 €
-



Das Projekt 2004: Kleiner und effizienter in Blumenthal



Auf der Hauptversammlung am 27. Juni 2001 berichtete das Management von grundsätzlichen Überlegungen zum Blumenthaler Standort, mit denen man sich seit 18 Monaten, also etwa seit Anfang 2000, beschäftige.

Damals war die Geschäftsleitung zu der Auffassung gekommen, „dass Bremen in der gegenwärtigen Form nicht haltbar ist.“ Daher hatte man „die möglichen
Alternativen herausgearbeitet“ und vier „Optionen gegeneinander abgewogen“:

· Beibehaltung des Status Quo

· Schließung

· Umzug

· Umstrukturierung der Bremer Woll-Kämmerei  (2001, S. 15)


Für das Management war dabei die Entscheidung relativ einfach, da drei Optionen als kaum diskussionswürdig eingeschätzt wurden.  So kam die Erhaltung des Status Quo wegen "der veralteten Technologie" nicht in Frage, eine Schließung war schlicht und einfach kein "Bestandteil unserer Strategie" und ein Umzug "wäre teurer gekommen als der Verbleib in Bremen".

Aus den vier Optionen war damit eine Fixierung auf nur noch eine geworden, für deren Sinnhaftigkeit man plausibel Gründe herausstellte. Dazu nannte man ganz konkret:

- weil wir die vorhandenen Gebäude nutzen können,
- weil alte und neue Maschinen effizient genutzt werden können,
- weil die Mitarbeiter ausgebildet worden sind,
- weil das Abwasserklärwerk vorhanden ist. (S. 16)


Diese vier Hinweise dürften sicherlich nicht falsch gewesen sein. Allerdings umfassen sie nur einen Auszug aus allen tatsächlich relevanten Standortfaktoren. Sie ziehen weder die wichtigen Kostenaspekte für die Mitarbeiter noch die Verlagerung großer Teile der europäischen Bekleidungsindustrie nach Ostasien ins Kalkül. Wenn man eine objektive Beurteilung versucht, stellen die Aussagen damit eine Leugnung ganz wesentlicher Teile der Realität dar, indem sie diese Aspekte einfach nicht zur Kenntnis zu nehmen scheinen.

Wie die anschließende Entwicklung gezeigt hat, wurde die Bedeutung der vier aufgeführten Gründe deutlich falsch eingeschätzt; denn in China konnten sehr schnell Kämmereien aus dem Boden gestampft werden, obwohl es zunächst keine ausgebildeten Mitarbeiter, keine Gebäude, kein Abwasserklärwerk und keine Maschinen gab. Offenbar hatte hingegen ein Neustart sogar eher Produktivitätvorteile.


            Betriebsgelände nach dem Projekt 2004 (Quelle: Sir Charles 49, S. 1 (Förderverein   Kämmereimuseum))

Einem umfassenden Vergleich zwischen einem neuen Standort in einem Niedriglohnland mit wachsender Bekleidungsindustrie auf der einen Seite und dem alten Werk in Blumenthal wich das Management jedoch zumindest in den veröffentlichten Planungsunterlagen aus. Man wählte nicht nach objektiven Kriterien zwischen verschiedenen Standortoptionen, sondern fokussierte sich auf ein enges Ziel, indem die Steigerung der Produktivität und damit die Kostensenkung in Blumenthal zum ausschließlichen Credo wurden.

Wenn man die generelle Standortfrage übergeht, hat diese Fixierung durchaus ihre innere Logik. Da das Unternehmen die Kammlöhne und Wollpreise nicht beeinflussen konnte, konzentrierte man sich auf die Stellschrauben, die sich in Blumenthal wenigstens teilweise steuern ließen. Und das waren die Senkung der Kosten und damit die Steigerung der Produktivität.

Aber diese Ausrichtung besitzt zwar eine betriebswirtschaftliche Logik. Nur führt ihre praktische Umsetzung fast zwangsläufig zu Problemen, da sie hohe Investitionen in einen effizienten Maschinenpark und Mitarbeiter verlangt, die sehr flexible Arbeitszeiten, was auch Kurzarbeit und zeitweilige Entlassungen ein schließt, und relativ niedrige Einkommen akzeptieren.

Daher bestand eine wesentliche Aufgabe des Managements in der anschließenden Zeit vor allem in der Motivation der Mitarbeiter, von denen Opfer verlangt wurden. Für einen dieser Versuche hat man sogar zur Illustration einer Vorstandsrede das Maskottchen Charly aus der Werkszeitung "Sir Charles" eingesetzt, das die Wirkung des vorgesehenen Maßnahmenbündels als die eines Fitnessproramms veranschaulichen sollte. 


     Comic-Figur Charly wirbt für effiziente BWK (Quelle: Rede des Finanzvorstandes Les Wozniczka auf der HV 2002 ((Archivierte BWK-Webseiten)


Dabei blieb es jedoch nicht bei einem Motivationsprogramm für die vor allem betroffenen Mitarbeiter. Es gab auch zahlenmäßige Erfolge, wenn für 2001 eine Kostensenkung in Blumenthal "allein um 23 %" gemeldet werden konnte (HV 2002, S. 2) und man ein Jahr später feststellte, das man dabei sei, "die Produktion in Deutschland zu erhalten" (HV 2003, S. 2)

So wollte man auch trotz der ausgewiesenen Verluste von den "erzielten Erfolgen" sprechen, da sich die operativen Verluste "nur auf die unauskömmlichen Kammlöhne während des Geschäftsjahres" bezogen. Auch wies der Vorstandsvorsitzende daraufhin, dass "unsere Schmerzen" "sehr von unseren Wettbewerbern geteilt" werden. (HV 2003, S. 7) 

Danach ließen sich die extremen Absatz- und Finanzprobleme der BWK nicht mehr durch ähnliche Schwierigkeiten bei einigen Wettbewerbern oder nette Comicfiguren verdrängen. Es fehlten schlicht und einfach die finanziellen Mittel, um aus eigene Kraft eine Insolvenz zu vermeiden oder auch nur das beschlossene Programm 2004 umzusetzen.

So konnten, wie es im Geschäftsbericht 2004 heißt, "die unter der Bezeichnung „Projekt 2004“ zusammengefassten Restrukturierungsmaßnahmen in der Kämmerei in Bremen konnten erst Ende 2004 mit einer 12-monatigen Verspätung abgeschlossen werden."  Dieser Verzug wird mit "der angespannten finanziellen Lage der BWK AG" begründet, wodurch "die Auszahlung der langfristigen Darlehen zeitweise zurückgestellt" wurde. In der weiteren Folge habe sich dann "einige Lieferanten .. nicht mehr länger an die vereinbarten Zeitpläne" gehalten, "was weitere Verzögerungen zur Folge hatte".(GB 2004, S. 8f.)



Der Verkauf des Tafelsilbers oder Grundstücke als politische Tauschobjekte


Vor allem die wirtschaftlich Lage hat die BWK seit 1998 zum Verkauf von Teilen des riesigen Betriebsgrundstückes in Blumenthal zu verkaufen (vgl. Tabelle). Man musste also, wie man einen derartigen Schritt üblicherweise bezeichnet, Tafelsilber verkaufen, um die liquiden Mittel für notwendige Investitionen in die Zukunft des Unternehmens einzusetzen. Dabei wurden nicht ausschließlich nicht mehr betriebsnotwendige Flächen vor allem an die Stadtgemeinde Bremen verkauft. Vielmehr hat man ca. 50.000 qm zurückgemietet, wodurch die dringend benötigte aktuelle Liquidität zulasten der zukünftigen Ausgabenbelastung verbessert werden konnte. Bei diesen Verkäufen war es von Vorteil, dass die Flächen frei von Altlasten waren, wie entsprechende Probebohrungen bewiesen haben.  

Die Verkäufe erfolgten in mehreren Schritten. Es begann in den Jahren 2001 und 2002 mit der BWK-Beteiligung an "Wätjens Garten" und dem Müllerloch zwischen den BWK-Gebäuden und der Bahrsplate von etwa 250.000 qm, nachdem das Unternehmen noch bis 1998 das schon seit den Gründerjahren sehr umfangreiche Betriebsgelände in geringem Maße weiter arrondiert hatte.

Auf der Hauptversammlung 2002 wurde von einem Beitrag dieser Grundstückstransaktionen in Höhe von 1,6 Mio. € für Wätjens Garten im Jahr 2000 und von 5,3 Mio. € für das Müllerloch im Jahr 2001 berichtet. (HV-Reden 2002, S. 7) 

Grundstückverkäufe der BWK 1998-2004

Jahr
Betriebsgrundstück
überbaut mit Gebäuden
davon: Wohngebäude
Grünflächen
1998
554.601
195.873
2.293
246.746
2001
454.601
195.873
2.293
146.746
2002
403.876
195.873
2.293
96.021
2003
182.771
142.791
2.293
-
2004
119.738
66.339
1.010
9.102
Quelle: Umwelterklärung 2004, S. 5 und 2005, S. 12 (Archivierte BWK-Webseiten)


Im Jahr 2003 wurden dann 220.000 qm Gebäude- und Hofflächen sowie die gesamten Grünflächen von knapp 100.000 qm an die Stadt Bremen verkauft. (Umwelterklärung 2004, S. 5) Zudem verringerte sich d
urch die Ausgliederung der Umweltanlagen in die BREWA und des Heizkraftwerkes in die HKW das Betriebsgrundstück nochmals um 50.000 qm.  

Während man bei den ersten Verkäufen noch von Flächen sprechen kann, die die BWK nicht benötigte, aber im Falle des Müllerloch mit dem Blumenthal Center rasch wieder bebaut und genutzt wurden, gilt das nicht für den Handel mit der Bremer Investitionsgesellschaft (BIG). In diesem Fall ging es einerseits um ein übliches Grundstücksgeschäft, bei dem der Käufer eine Immobilie ebenfalls mit Gebäuden erhält und dafür einen Geldpreis zu zahlen hat. 

Ein derartiger Handel von 212.000 qm Fläche gegen eine Zahlung 13,5 Mio € war jedenfalls nur ein Teil der Transaktion. Gleichzeitig musste sich die BWK verpflichten, in den folgenden fünf Jahren den Standort Blumenthal nicht zu schließen und dort für mindestens 230 Mitarbeiter den Arbeitsplatz drei Jahre lang zu garantieren. (Umwelterklärung, S. 5)


Eine ganz spezielle Bremer Lösung 



Nachdem vorher bereits entsprechende Gerüchte kursiert hatten, wurde es am 30. Mai 2001 zur Gewissheit, als sich der Aufsichtsrat der Bremer Stadtwerke für Gerhard Harder als Chef dieses regionalen Versorgungsunternehmens aussprach, der sich damit den Turbulenzen der globalisierten Weltwirtschaft weitestgehend entzogen hat. (SC, 49,2)

Herr Harder war vorher seit 1991 in BWK-Vorstand und wurde 1996 Nachfolger von Herrn Georgi als CEO. Für Sir Charles hat er durch „richtige, nicht immer populäre Maßnahmen“ die BWK durch „die schweren Zeiten einer tiefen Absatzkrise gebracht und durch Kostensenkungsprogramme und Restrukturierungsmaßnahmen auf die Zukunft vorbereitet.“ 

Dabei wird besonders herausgestellt, dass ihm der Standort Blumenthal „immer sehr am Herzen“ lag. Diese Haltung dürfte sicherlich für sein neues Amt nicht hinderlich gewesen sein.


Die „ökologischen Wunderwaffen“ der BWK



Als ein gewichtiger Problem- und Kostenbereich stellte sich bei der Kammzugproduktion im Zuge eines wachsenden Umweltbewusstsein das Waschen der Rohwolle heraus. Mit den Rohwollballen kamen nicht nur die Wolle von Merinos und anderen Schafen nach Blumenthal, sondern auch jede Menge Dreck von den Weiden dieser Welt. Grob gerechnet besteht so etwa vom Gewicht her die Hälfte der Rohwolle aus Schmutz und Wollfett, die in der Wäscherei von der eigentliche Wolle getrennt werden müssen.

Aus dem Waschwasser werden anschließend verwertbare Stoffe wie das Wollfett und Mineraldünger gewonnen, während die übrigen Bestandteile, zu denen auch die Reste von Pflanzenschutzmitteln zählen, entsorgt werden müssen, bevor man das gereinigte Waschwasser in die Weser leiten kann.

Nachdem über Jahrzehnte das ungenügende Klären des Wollwaschwassers beanstandet wurde, entwickelte die BWK inige Jahrzehnte vor ihrer Stilllegung eine spezielle Umweltstrategie. Dabei ging es nicht nur darum, sich als ökologische Musterkämmerei zu profilieren. Vielmehr wollte man gleichzeitig durch die eigenen Umweltmaßnahmen die Kosten senken. Das Management wollte also nicht nur den üblichen Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie entschärfen, sondern dank einer gezielten Entsorgung der Reststoffe sogar die Kosten der Kammzugherstellung verringern.

Dieses Entwicklung hat das BWK-Management in ganz besonderer Weise eingesetzt und beurteilt. Während andere Kämmereien in der Reinigung vor allem ein notwendiges Übel sehen, um den jeweiligen nationalen Umweltvorschriften zu genügen, war die Entwicklung der Eindampf- und Feuerungsanlage (EFA) für die BWK erheblich mehr.

Nachdem sich die Bremer Kämmerei über viele Jahre nicht gerade als ökologischer Musterbetrieb profiliert hatte, sondern vielmehr Konflikte mit den Umweltbehörden und Blumenthaler Bürgerinitiativen nicht gescheut hat, ändert sich Ende der 1980-er Jahre ihre Umweltpolitik.

So wurde zunächst in Verbindung mit Experten der Hannoveraner Universität und des Anlagenbauers Lurgi eine biologische Kläranlage für das Wollwaschwasser gebaut. Auf diesen ersten Schritt folgte ab 1986 der Bau einer Eindampf-und Feuerungsanlage (EFA), die 1988 in Betrieb ging. Für dass Management und die Werkszeitung war dieses Projekt nicht nur mit Investitionen von 25 Mio. DM teuer, sondern insgesamt ein "echter Knüller.  (SC 2) Mit Blick auf EFA sah sich die BWK "in der Wollindustrie weltweit führend in der Behandlung des Wollwaschwassers", wie auf der Hauptversammlung 1999 erklärt wurde. Nicht ohne Eigenlob hielt man "unsere Eindampfungs- und Feuerungsanlage" "– wie die Engländer sagen - (für) „second to none“ oder einfach: einmalig." 

Dieses Urteil bezog sich nicht ausschließlich auf die erfolgreich entwickelte Technologie und die Vorteile für den Lebensraum Weser. Ganz entscheidend waren - und darüber hat das BWK-Management nie einen Zweifel gelassen - der betriebswirtschaftlichen Effekte.

Während andere Unternehmen den Umweltschutz als notwendigen Kostenblock sehen, sollte er bei der BWK die Kammzugproduktion verbilligen, ja, sogar für zusätzliche Einnahmen und Gewinne sorgen. In den schlechten Jahren der Wollkämmerei wurden die Entsorgung und die Energieerzeugung große Hoffnungsträger. Ihnen billigte man Profitchancen zu, wie das bei kaum einer anderen Kämmerei oder einem vergleichbaren Unternehmen der Fall war.

Dieses Rentabilität von Anlagen, die Abfall in DM bzw. € verwandeln können, hatte durchaus technische Grundlagen. Schwierig war hingegen ihre Akzeptanz in der Nähe des Blumenthaler Stadtteilzentrums.

Ausgangspunkt der Kalkulationen waren dabei die üblichen Kosten für die Klärung des Wollwaschwassers und die Erzeugung von Strom und Wärme für den Wäscherei- und Kämmereibetrieb, wozu beispielsweise neben dem Antrieb der Maschinen auch ein Erhitzen des Waschwassers gehört. Hier konnte man technologische Erfolge erreihen, denn es ließ sich die Menge des Wollwaschwassers deutlich reduzieren, und das Kraftwerk auch durch andere brennfähige Materialien, de als Ersatzbrennstoffe bezeichnet werden, als Steinkohle befeuern. Damit wurden Kapazitäten bei der EFA frei und das Kraftwerk konnte Müll verbrennen. Die Energieerzeugung war somit nicht mehr eine Kostenbelastung, sondern konnte sich zu zu einem einträglichen Geschäft entwickeln. So erklärte Thomas Bolte für die BWK im Januar 2004  "Die Umstellung der BWK-Kraftwerkes auf Sekundärbrennstoffe ist essentiell für unser Unternehmen. Dadurch können wir praktisch die Energiekosten auf Null senken“ (Weser-Kurier vom 27.1.2004).

Zukäufe von Müll, der vorher entsprechend den vorhandenen Verarbeitungsmöglichkeiten selektiert wurde, fanden nicht nur für das Heizkraftwerk, sondern auch die EFA statt. Anstelle des Wollwaschwassers wurden hier ähnliche Abfälle vor allem aus der kosmetischen Industrie eingesetzt.
Der Einsatz dieses Fremdmülls, der keinen Bezug zur Kammzugproduktion hatte, führte zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der BWK und zahlreichen Blumenthalern sowie Bewohnern des Umlandes, die aufgrund der entstehenden Abgase Sorge um ihre Gesundheit hatten und sich in Bürgerinitiativen wie die "Unabhängige Bürgerbewegung Blumenthal und umzu" 
gegen die energetische Verwertung von Müll in der Nähe des Blumenthaler Zentrums wehrten.



Die Phase der Realitätsleugnung: Die schlechten und die überschätzten Strohhalme



Die Maßnahmen zur Erhaltung des bestehenden Blumenthaler Werkes waren nicht unbedingt erfolgreich, wie die Beschäftigten und Leser sehr leicht aus dem Tenor der Adventsbotschaften ihres Vorstandsvorsitzenden in der Werkszeitung "Sir CHarles" entnehmen konnten.

Dabei dramatisierte sich de Wortahl innerhalb weniger Jahre, wenn zunchst stärker auf die noch besttehdnedn Chancen verwiesen wurde. Im Dezmebr 2001 sprchh so der BWK-Chef bei dem Start der Stratgie 2004 von der "einzigen Chance", um den „strategisch wichtigen Standort in Europa erhalten“ zu können. (Sir Charles, 51, S. 1)

Das änderte sich drei Jahre später, als ein fast schon essentieller Appell an die immer weniger werdenden Mitarbeiter mit den üblichen Weihnachts- und Neujahrswünschen verbunden wurde: 
„Damit wir überleben können, müssen wir in Bremen länger arbeiten. Ein relativ kleiner Beitrag von Ihnen, für ein großes Ziel." (Sir Charles, 61, S. 1)



                               BWK-Vorstandsvorsitzender im Advent 2001 (Quelle: Sir Charles)



Dieser für einen Manager fast hilflos klingende Aufruf, Kosten nicht durch technologische Vorsprünge, sondern nach dem Muster des Wettbewerbsvorteils von Entwicklungsländen, also durch billige Arbeitskraft, zu erreichen, war nicht der einzige Strohhalm.

Die allgemeinen Tendenzen sprachen zwar schon damals für die Entwicklung, die auch tatsächlich eingetreten ist, aber man konnte auch abweichende Einzelmeinungen finden. So fand man für die letzte Ausgabe der Werkszeitung im Jahr 2005 zwei Textilunternehmen, die nur in Deutchalnd  ihre Produkten herstellten, weil dieser Standort besser sei als sein Ruf. Verwiesen wurde auf Trigema, einen T-Shirt- und Tennis-Bekleidungs-Hersteller, der vor allem durch die persönlichen Werbeauftritten seines Eigentümer Wolfgang Grupp bekannt ist, und der Hersteller von Pullover- und Sockenwolle Tutto. Entscheidend für ein Unternehmen seinen nicht Billiglöhne, sondern die Fähigkeit der Unternehmer, die vorhandenen Potenziale auszuschöpfen.

Zuvor war in der Ausgabe 60 von "Sir Charles", als die Fage augeworfen wurde. "Liegt die Zukunft noch in China?"

Aus heutiger Sicht wird sich kaum noch jemand für die Anwort interessieren; denn beide Artikel stellen ausgefilterte Nachrichten dar, die man nur as Realitätsleugnung verstehen kann. Der Siegeszug der chinesischen Wollkämmereien hatte damals in Verbindung mit dem der dortigen Bekleidungsindustrie erst begonnen und nur durch kreative Gegenstrategien konnte die traditionelle europäische Kämmereiindustrie überleben.




Die Managemententscheidungen der 1990-er Jahre und ihre Folgen

Als Antwort auf die ökonomischen Veränderungen der Globalisierung, die durch den Zerfall des Ostblocks und die Öffnung Chinas ausgelöst wurden, trafen Vorstand und Aufsichtsrat zwei zentralen Entscheidungen. Sie bauten die Aktiengesellschaft, die fast ausschließlich aus dem Blumenthaler Betrieb bestand, durch die Zukäufe von Wollhandelsgesellschaften und den Bau einer neuen Kämmerei im australischen Geelong zur BWK-Gruppe aus. Wie an anderer Stelle dargestellt ist, hatte die BWK in diesem Fall einen falschen Zeitpunkt und einen falschen Zeitpunkt gewählt. Die "Strafe" für diese Fehler bestand in der Schließung des neuen Produktionsbetriebes und dem Verkauf der Handelsgesellschaften unterhalb des Einkaufspreises. Insgesamt war dieser kurzfristiger Versuch, eine BWK-Gruppe mit zwei globalen Standorten aufzubauen, daher zu einem Verlust von ca 100 Mio. €, wie auf einer Hauptversammlung unwidersprochen festgestellt wurde. Sie bestehen aus den Bau- und Anlaufkosten in Geelong, die Übernahme von Verlusten und die Differenzen zwischen Kauf- und Verkaufspreisen bei den Wollhandelsgesellschaften. Dabei wurden mögliche Opportunitätskosten, also entgangene Erträge aus alternativen Anlagen der vorgenommenen Investitionen nicht berücksichtigt. 

Schwieriger ist es, die Kosten der Blumenthaler Standortpolitik zu ermitteln, da es hierzu keine Auskünfte des BWK-Managements gibt. Wichtige Positionen sind hier die Investitionen, die für neue Gebäude und Maschinen in Blumenthal ausgegeben wurden und nach der Einstellung der Produktion nach China verschifft oder abgerissen und verschrottet wurden. Dabei kann man das Jahr 1998 wie in der Tabelle als mögliches Ausgangsdatum für eine Modellrechnung wählen, da es auf die Vegesacker Standortdiskussionen folgt. Ein zweiten Posten stellen die operativen Verluste des Blumenthaler Betriebes dar, in von der AG übernommen und entsprechend in den Erläuterungen zu den Bilanzen aufgeführt wurden.


Ausgaben für das Werk Blumenthal zwischen 1998 und 2006 (in Mio. DM (1))

Jahr
Investitionen (2)
Operatives Ergebnis (2)
1998
11,1
-20,1
1999
3
-9,2
2000
6
4,6
2001
3,3
8,8
2002
8,4
6,1
2003
6,1
-17,6
2004
8,6
-23,1
2005 (3)
2,5
-30,1
2006
1,6
-4,3
Summe
50,6
-84,9
Quelle: BWK-Geschäftsberichte

(1) Ab 2001 erfolgte eine Umrechnung der €-Werte in DM (1 Euro = 1,95583 DM). 

(2) Die Investitionen wurden teilweise auch für den Chemiefaserbereich vorgenommen, dessen meist gering positive Abschlüsse Teil der ausgewiesenen operativen Ergebnisse sind.
(3) Im Ergebnis sind keine Sanierungsbeiträge von Banken enthalten, die 10,8 Mio. € betrugen


Auch wenn die Zurechnungen zu den Kosten der gescheiterten Standortverteidigung nicht auf jeden Cent exakt zurechenbar sind, dürften die ausgewiesenen Summen von gut 50 Mio. DM vor allem für Rationalisierungsinvestionen und die Umsetzung der Strategie 2004 in Blumenthal ein signifikanter Ertrag sein. 

Gleichzeitig brachte die Produktion im Bremer Norden in diesen Jahren zwischen 1998 und 2006 keine Gewinne. Vielmehr mussten Verluste durch die Kammzugherstellung in Höhe von fast 85 Mio. verkraftet werden. Damit war die Entscheidung für ein Festhalten an einer großen Wollkämmerei am alten Blumenthaler Standort sogar noch kostspieliger als der Globalisierungsversuch.



Mögliche Alternativen zur "Todesstrategie"


Das glanzlose Ende eines ehemalige Weltunternehmens, das praktisch sein gesamtes Eigenkapital verbrannte, große Teile seines immensen Blumenthaler Grundbesitz verkaufte, um mit den Einnahmen ein etwas längeres Überleben zu finanzieren, und Arbeitsplätze vernichtet hat, die möglicherweise etwas länger bestanden haben, als das bei einer anderen Strategie der Fall gewesen wäre, wirft fast zwangsläufig die Frage nach möglichen Alternativen auf.

Auch wenn die einleitende Aussagen des BWK-Vorstandsvorsitzenden nicht falsch sind und die Ertragssituation von Wollkämmereien in den kritischen Jahren der BWK generell nicht rosig waren, muss man auch sehen, dass es weiterhin eine Verarbeitung von Rohwolle gibt und man ein vorhandenes Eigenkapital auch anders verwenden kann, als es nach und nach für Fehlinvestitionen und Verluste im laufenden operativen Geschäft zu verbrennen.


Global aufgestellte Kämmerei-Konzerne heute



Wollkämmereien sind insgesamt gesehen zwar keine Goldesel. Aber man kann mit ihnen dennoch Geld verdienen oder auch mit dem Kapital, das man aus Gewinnen der Kämmereiindustrie realisiert und in anderen Wirtschaftsbereichen neu investiert hat. Aber das kann nur ganz allgemein die heutige Situation der nichtchinesischen Wollkämmereien skizzieren. Bei den einzelnen Unternehmen gibt es selbstverständlich deutliche Unterschiede, da sie bereits 1997 ganz unterschiedliche Schwerpunkte und abweichende Entwicklungschancen besaßen.

Der ewige Konkurrent Chargeurs


Von der Größe und dem Rechtsstatus her lässt sich die Tochter Chargeurs Wool des französischen Chargeurs-Konzern am besten mit der BWK vergleichen. Da der ehemalige harte Konkurrent nach wie vor an einer Börse gehandelt wird, stehen über ihn deutlich mehr Informationen zur Verfügung als über die drei privaten Gesellschaften, die hier als Vergleichsunternehmen zur BWK herangezogen werden.

Wenn man wichtige betriebswirtschaftliche Daten vergleicht, unterscheidet sich der Kämmereibereich des französischen Konzerns sehr deutlich von den Zahlen für die BWK. Zwar ist zwischen 1995 und 2012 der Umsatz fast kontinuierlich auf inzwischen nur noch 164,2 Mio. € gesunken. Gleichzeitig ist es jedoch gelungen, dass in den Jahren zwischen 1993 und 2012 nur dreimal ein Verlust ausgewiesen werden musste. Der Kämmereibereich konnte also trotz aller Veränderungen auf dem Wollmarkt profitabel gehalten werden.

Das war allerdings nicht ohne tiefgreifende Veränderungen möglich, wie sie sich bereits aus der Verteilung der Mitarbeiter ablesen lassen. Danach war Chargeurs Wool  zur Zeit der Jahrtausendwende in Europa, Asien und Amerika etwa gleichstark aufgestellt. In der Folgezeit erfolgte dann ein Rückzug aus Europa und ein kräftiger Ausbau der asiatischen Aktivitäten, sodass 2012 fast 90 % der Mitarbeiter in Asien beschäftigt waren.

Diese regionale Scwerpunktverlagerung war und ist mit einer völligen Neuausrichtung des Geschäfts verbunden. Während Chargeurs früher wie die BWK Eigentümer von Wollkämmereien war, die allerdings kleiner und regional weiter gestreut als die der BWK waren, sich dann auf Minderheitsbeteiligungen beschränkte, ist das Unternehmen nach dem Verkauf einer größeren Beteiligung in China inzwischen ein reiner Dienstleister für die Wollindustrie.



Die Entwicklung von Chargeurs Wool 1993-2012

Jahr
Umsatz in  Mio. FF
Operativer
Gewinn in Mio. FF
Mitarbeiter in Europa in %
Mitarbeiter in    Asien in %
Mitarbeiter in Amerika in %
Mitarbeiter in Südafrika in %
1993
3.316
84




1994
4.041
277




1995
4.517
47




1996
4.058
-24




1997
4.357
175




1998
3.054
14
23
32
33
12
1999
2.859
47
25
35
27
13
2000
494,00 €
20,00 €
25
35
28
12
2001
478,00 €
18,00 €
24
37
27
12
2002
416,00 €
4,00 €
23
49
28
-
2003
352,00 €
-1,00 €
23
47
30
-
2004
284,90 €
5,40 €
20
49
31
-
2005
231,40 €
-27,10 €
4
59
37
-
2006
224,00 €
1,90 €
3
62
35
-
2007
254,00 €
5,40 €
3
74
23
-
2008
186,50 €
-6,80 €
5
58
37
-
2009
144,00 €
0,10 €
5
60
35
-
2010
150,00 €
1,20 €
4
59
37
-
2011
185,00 €
6,70 €
4
59
37
-
2012
164,10 €
0,20 €
7
88
5
-
Quelle: Geschäftsberichte von Chargeurs

Diese Entwicklung von einem weltweiten Kämmereieigentümer zu einem Wolldienstleister hat Chargeurs Wool 2013 abgeschlossen. Das lässt sich sehr deutlich an der Anzahl der Mitarbeiter und ihrer Verteilung auf dem Globus erkennen. Diese letzte abrupte Änderung im Jahr 2012 ist auf den Verkauf eines großen Kämmereianteils, und war der Zhangjiagang Yangtse Wool Combing Co, in China zurückzuführen, sodass jetzt keine Kämmerei als Tochtergesellschaft bilanziell erfasst wird. Die französische Gesellschaft hat damit kaum noch einen direkten Einfluss auf die Unternehmensführungen der Kämmereien aufgrund von Eigentumsrechten, sondern nur noch durch ihre Kompetenz und Marktmacht als weltweiter Berater und Wollhändler.

    

Die Strategien von Groupe Dewavrin, G. Modiano Ltd und Standard Wool



Die kleinste der betrachteten Wettbewerber der BWK  war 1997 die traditionsreiche britische Gesellschaft Standard Wool aus dem alten Wollzentrum Bradford in Yorkshire, die neben ihrem Wollhandel in über 30 Ländern weiterhin Kämmereien im benachbarten Dewsbury und in Punta Arenas in Chile betreibt. 

Dieses Privatunternehmen hatte im März 2013 einen Marktwert von 9 Mio. Pfund und weltweit 150 Mitarbeiter. Davon sind 55 in der englischen Kämmerei angestellt, die eine Kapazität von 20 Mio. kg pro Jhr besitzt.

Eine besonderes regionales Monopol hat die traditionsreiche patagonische Tochter Jacomb Hoare & Co. aufgebaut, die sehr eng mit 450 lokalen Wollproduktion zusammenarbeitet, wodurch sie 60% der chilenischen Rohwolle kontrolliert, die zu den besonders feinen Qualitäten weltweit zählt.

Zu dieser Gruppen zählen neben der Muttergesellschaft und den beiden Kämmereien noch eine Handelsgesellschaft in Neuseeland und ein Büro in China.
Standard Wool ist damit eine Kombination von zwei kleineren regionalen Kämmereien mit global ausgerichteten Handelsgesellschaften. Eine Stärke des Unternehmens ist dabei die Besetzung einer regionalen Nische, wobei es sich um die Wolle aus Patagonien handelt, die weltweit als Regionalmarke ein sehr gutes Image besitzt.

Weniger traditionsreiche Wurzeln besitzt G. Modiano, eine Gesellschaft, die in der heutigen Struktur erst im August 1957 
Jo (Giuseppe) Modiano gegründet wurde. Zentraler Produktionsbetrieb ist ein Kämmerei im tschechischen Nejdek in der Nähe von Karlsbad. 

Heute bezeichnet sich Modiano selbst als weltweit größter Hersteller von Kammzügen. Hintergrund dieser Selbsteinschätzung ist die Nejdek Wool Combing (Nejdecka Cesarna Vlny oder NCV) a.s., die 1995 gegründet wurde, jedoch an erste indsutrielle Wollberbetiungsanlgen mithilfe ein Wasserturbine beeits im Jahr 1846 anknüpfen. Heute ist die NCV eine der weltweit modernsten Wollwäschereien und -kämmereien, die auf einer bebauten Fläche von 80.000 qm eine Kapazität von 23 Mio. kg an Kammzügen besitzt. Dazu zählen Bearbeitungen, duch die die Wolle sich problemlos waschen lässt, also weich bleibt und nicht einläuft oder verfilzt. Auch werden hohe Umweltstandards der EU eingehalten.

Auch wenn die drei Gesellschaften es als erfolgversprechende Strategie ausweisen, gab es zumindest noch eine weitere Chance des Überlebens für eine europäische Wollkämmerei. Das beweist die französische Gruppe Dewavrin, die 1842 als Familienunternehmen im französischen Tourcoing gegründet wurde.

Um die Kämmerei mit Rohwolle versorgen, wurden ab 1892 Büros in Australien, Südafrika, Neuseeland, England und bereits 1954 auch in China. Nach dem Zweten Weltkrieg wurde dann nicht nur mit Rohwolle, sondern auch mit Kammzügen gehandelt.

Um die Qualität der Kammzüge zu verbessern, deren Herstellungen zuvor an kleinere Kämmereien vergeben worden war, fasste der Eigentümer 1963 den Entschluss, eine moderne Kämmerei in Auchel zu bauen.

Drei Jahre später wurde ein Büro in Biella eröffnet, also im Herz der in Europa führende italienischen Textil- und Bekleidungsindustrie.

Neben dieser Ausrichtung auf den Handel und die Fokussierung auf die Kundennähe ging Dewavrin jedoch noch einen ganz anderen Weg. Man baute die Verarbeitung eines Nebenprodukts, das bei der Wollwäsche gewonnen wird, zu einem eigenen Geschäftsbereich aus. Wollfett oder Lanolin wurde zwar auch bei der BWK und der Nordwolle gewonnen, aber dort kaum weiterverarbeitet. Vielmehr hat es die Bremer Woll-Kämmerei als Vorprodukt für die Nivea-Herstellung an die Beiersdorf AG nach Hamburg geliefert.


Dewavrin nutzt diesen Grundstoff, bei dem man sich als weltweiter Marktführer sieht, für die Herstellung vor allem von Hautpflegemitteln selbst und ergänzte das Wollgeschäft durch die Firmen StellaAlpol LaboratoriesSobrecos und ISISPHARMA.


Alpol mit einem Firmensitz in Castle Gaillard wurde 1949 als Lieferant für Handelsmarken und 1997 von Dewavrin übernommen. Dieses Unternehmen entwickelte eine breite Palette von Texturen und Produkten für die Körper und speziell die Gesichtspflege. Im Jahr 2011 machte Alpol mit dieser Produktpalette einen Umsatz von 10,5 Mio €.
Weitere europäische Nischenplayer


Während die BWK nach und nach Umsätze und Arbeitsplätze verloren hat und diese alten Wettbewerber durch eine Revision ihrer Geschäftsmodelle überleben konnten, haben in den kritischen letzten Jahren des Blumenthaler Unternehmens sogar junger Kämmereien außerhalb Chinas als Neugründungen begonnen. Ihr Erfolgsrezept waren dabei geringene Kaazitäten für sehr, sehr feine Kammzüge und eine regionale Ausrichtung auf europäische Schafwolle.

Zu diesen Neulingen zählt in Großbritannien die Curtis (Wool) Holdings Limited, die im Mai 1979 gegründet wurde und neben der Woll- und Kammzughandel eine Kämmerei in Bradford betreibt. Eine Spezialität ist dabei eine Fokussierung auf norwegische Wolle, die über die Genossenschaft Nortura erfolgt. Einen weiteren regionalen Schwerpunkt bildet die Firma Jamieson & Smith Shetland Wool Brokers Ltd., die die Rohwolle von 700 Schafzüchtern auf den Shetlands aufkauft


Für das Waschen und Kämmen dieser Rohwollen steht mit der Haworth Scouring Company eine nach höchsten ökologischen Standards zertifizierte Wollkämmerei in Bradford zur Verfügung, die eine Kapazität von ca. 50 Mio kg Wolle jährlich besitzt. Dabei wird Wolle aus Großbritannien, Norwegen, Neuseeland und von den Shetlands zu Kammzügen verabeitet.  



                                        Haworth Scouring Company (Quelle: youtube)

 
 
Während Curtis die Nischen von norwegischer und Shetland-Wolle besetzt, hat sich die Botto-Wollgruppe bei ihren Kunden auf die italienische Textil- und Bekleidungsindustrie in Miagliano in der pietmontesischen Provinz Biella konzentriert. So ist man neben der Biellawool in Italien durch weitere Handelsgesellschaften und teilweise Lagerkapazitäten in Rumänien, Ungarn und in China. Die Handelsorganisationen können dabei ihren Kunden auch spezielle Bearbeitungskapazitäten für die Wäschereien und Kämmereien in Australien und China anbieten.Besondere Bedeutung besitzt dabei die Wollkämmerei G.W.C. (Gyor Wool Combing) im ungarischen Györ, die seit 1993 zur Gruppe gehört und eine Kapazität von 4 Mio kg pro Jahr besitzt. 
   
Einen ganz besonderen Weg der Spezialisierung ist eine andere Firma in der italienischen Textilregion um Biella gegangen, also dem Gebiet, das durch seine besonders hochwertigen Bekleidungshersteller weltweit bekannt ist. Dabei haben die Modeverantwortlichen hier sogar mit ihren Qualitätsanforderungen bei den Wollproduzenten angesetzt. So hat die Firma Ermenegildo Zegna einen weltweit ausgeschriebenen Preis für den Wollproduzenten ausgeschrieben, der die feinste und weichste Wolle herstellt. Diese Ermenegildo Zegna Vellus Aureum Trophy wurde erstmals 2002 verliehen. Inzwischen konnte im Jahr 2010 ein weiches Schafffell von nur 10 Mikron Durchmesser aus Windradeen in New South Wales prämiert werden, das damit einen neue Weltrekord für die Feinheit eines Schafes aufgestellt. 

Die Produktion von Kammzügen aus besonders feinen Wollen ganz in der Nähe der italienischen Bekleidungsindustrie war sogar für einen Wollhändler aus Australien eine attraktive Investitionsmöglichkeit. So beteiligte sich 1989 die G. Schneider-Gruppe an der Pettinatura di Verrone, einer Kämmerei die 1960 in Biella gegründet wurde und sich im Lauf der Jahre auf die Herstellung von super und extra feinen Kammzügen spezialisiert hat. Dabei wurde bei den eingesetzten Rohwollen in den frühen 1990-er Jahren die Schafwolle durch Fasern von VikunjasGuanakosAlpakas und Angoraziegen ergänzt. 

Die Kapazität dieser Spezialitätenkämmerei in Verrone ebenfalls in der Provinz Biela, an der Luxusmodehersteller Loro Piana, Marzotto and Ermenegildo Zegna mit jeweils einer symbolischen Aktie sind, beträgt insgesamt 6 Mio. kg pro Jahr. 
Davon entfallen ca. 2.000 kg auf super feine Kammzüge, deren durchschnittliche Feinheit bei 16,5 my liegt. Die Hälfte macht dabei die Schafwolle aus, während zusätzlich Wollen in kleineren Mengen von Kaschmir- und Angoraziegen, Kamelen, Vikunjas und Guanakos hergestellt werden. 

Das Unternehmen steht für eine weltweit exzellente und beste Produktqualität. Dieser Ruf der Qualitätsführerschaft prägt daher die gesamte Unternehmensphilosophie.

Zusammenfassend lassen sich damit die Ausrichtung auf den Handel und damit verbundene Dienstleistungen sowie die Diversifikation in benachbarte Geschäftsfelder wie die Weiterverarbeitung des Wollfetts als typische Strategien nennen, mit deren Hilfe der Siegeszug der chinesischen Wollkämmereien nicht mit dem eigenen Untergang verbunden war. Aber auch die Weiterführung von Kämmereiaktivitäten war nicht zwangsläufig eine falsche Managemententscheidung. In diesem Fall war jedoch die Konzentration auf regionale Nischen oder ein Setzen auf höchste Qualitätsansprüche etwa der bekannten italienischen Modehäuser vor großem Vorteil. Für den versuch, mit eine großen Massenkämmerei aufgrund der üblichen Kostendegression mit den Chinesen erfolgreich zu konkurrieren lassen sich hingegen nicht finden.




Eine große Blumenthaler Lösung: eine konsequente Nutzung der Stärken 



Diese Überlebensstrategien der große Wettbewerben lassen sich zwangsläufig nicht auf die BWK direkt übertragen, da die Ausgangssituationen zu verschieden sind. Im Folgenden sollen abweichende Entscheidungen vor dem Start in Geelong und zur Zeit des Workshops verfolgt werden.

Zu beiden Zeitpunkten war die Eigenkapitalsituation der BWK deutlich besser als später. Allerdings wurden die Stärken des Unternehmens von seinem Management, wenn man die publizierten Aussagen heranzieht, falsch eingeschätzt.



Zeitpunkte und Rahmenbedingungen für einen Strategiewechsel der BWK

ZeitpunktSituation
Arbeitsplätze
in Bremen
Arbeitsplätze
insgesamt
Ausgewiesenes Eigenkapital
Verbindlich-keiten
Finanz-ergebnis
1991Vor GWC-Gründung
1.107
1.107
78,8
56,6
1.077
1995Vor Workshop
821
821
89,9
284
-16.491
2000Vor Grundstücks-verkäufen
477
627
85,6
188,4
-13.884
2001Vor Projekt 2004
459
728
53,8
96,3
1.317
Quelle: Geschäftsberichte
 

Wie aus der Übersicht hervorgeht, war die BWK nach den goldenen 1980-er Jahren bis zur Entscheidung für Geelong ein sehr gesundes Unternehmen, das ein positives Finanzergebnis auswies. Man verfügte also über Eigenkapital und , konnte bei den guten Börsenkursen leicht neues Eigenkapital von den Aktionären oder Fremdkapital aufnehmen können, um in größerem Maße zu investieren. 

1991 hatte man also, ein richtiger Blick in die Zukunft der Wollindustrie vorausgesetzt, gute Bedingungen, um zwischen verschiedenen aussichtsreichen Optionen für die Zukunft wählen zu können.

In den folgenden zehn Jahren hat sich diese Situation dann ständig verändert. Einerseits ließ sich von Jahr zu Jahr die Entwicklung des Wollmarktes mit der Verlagerung nach Ostasien zumindest im Prinzip besser abschätzen, wie sich an einer Vielzahl von Ereignissen festmachen lässt. Andererseits schränkten die bereits investierten Mittel und die fast in jedem Jahr anfallenden neuen Verluste den Handlungsspielraum ein, sodass man auf einen dominierenden Investor wie Elders angewiesen war und schließlich nur noch die bereits begonnenen Geschäfte abwickeln konnte, da für größere Sprünge kein Geld mehr vorhanden war.

Da sich die Wollverarbeitung in dieser Zeit rückläufig entwickelte und generell die Verlagerung nach Ostasien erfolgt, erwies sich die hohe Kapazität in Blumenthal als Nachteil. Hier hätte man das Vermögen des Unternehmens weniger in der weltgrößten Kämmerei sehen dürfen, sondern in dem riesigen Immobilieneigentum, das sehr gute Standorteigenschaften besitzt, da es zwischen der Weser, einem Park und dem Zentrum Blumenthals an einer Bahnlinie in die Bremer Innenstadt liegt. 
Diese Fläche eignet sich daher ideal als etwas anspruchsvolleres Wohngebiet mit Dienstleistungsanbietern und Verwaltungseinrichtungen, wie man sie etwa in Delmenhorst in den alten Gebäuden der Nordwolle findet. 

Durch die Sondermüllverarbeitung mit dem Müllheizkraftwerk und der Eindampfungsanlage der Brewa war allerdings die Wohnqualität herabgesetzt. Daher hat das BWK-Management immer für eine industrielle und gewerbliche Nutzung des Geländes plädiert, um Konflikte mit Nachbarn in neuen Wohnhäusern zu vermeiden.

Neben dieser Fortschreibung der vorhandenen Nutzung ist jedoch eine grundsätzlich andere Bebauung denkbar und sogar wirtschaftlich vorteilhaft. Man kann die störenden Unternehmen auch verlagern. Das verursacht zwar zunächst Kosten, schafft jedoch gleichzeitig neue Werte, da Bauland erheblich teurer verkauft werden kann als Gewerbeflächen.

Solche Vorteile können sich jedoch nicht nur positiv in der Kasse des Grundstückseigentümers auswirken. Sie schaffen gleichzeitig ein deutlich besseres Potenzial für die Entwicklung des alten Zentrums von Blumenthal, sodass es unverständlich ist, wenn die Bremer Entwicklungsplaner sich so ausschließlich auf die Wunschvorstellung des BWK-Managements festgelegt haben.

Entstanden wäre so ein diversifizierter Mischkonzern, der zumindest zunächst seine alten Unternehmensbereiche in veränderter Gewichtung fortgeführt hätte. Segmente hätten so sein können:

- der internationale Wollhandel möglicherweise mit kleineren Beteiligungen an Kämmereien, um das vorhandene Know-how zu verwerten, wie es Chargeurs versucht, und 

- eine neue kleine Wollkämmerei im Raum Bremen für den geringen mitteleuropäischen Bedarf.

Daneben wären als bereits vorhandene Ansätze für die Diversifikation 

Sondermüllaufbereitungsanlagen und 

- Beteiligungen an vermieteten modernisierten denkmalgeschützten Immobilien auf dem vorhandenen Betriebsgelände denkbar gewesen. 

Der Kerngedanke dieses Vorschlags besteht dabei darin, dass das Management seine Entscheidungsvorbereitung nicht mit der Prämisse beginnt, möglichst viel von dem vorhandenen Unternehmen zu erhalten, das es in dieser Form selbst geschaffen hat und deswegen mit seiner eigenen Kompetenz verknüpft. Man hätte sich also von der Verlustaversion frei machen müssen

Dabei dürfte es vorteilhaft sein, das vorhandene eigene Betriebsgelände, das von sine Lage her ein  Blumenthaler Filetgrundstück ist, als Bauland ausweisen zu lassen und zu vermarkten. Die erforderlichen Neubauten hätte man aus der Differenz der deutlich höheren qm-Preise gegenüber denen von Gewerbeflächen finanzieren können. Grob gerechnet besteht dabei ein Preisunterschied von 3 : 1, sodass die Umwandlung von 100.000 qm ca. 10 Mio. € Mehrerlös erbracht hätte. Als 1998 die Fläche noch 554.601 qm betrug, hätte man entsprechend mehr erlösen können, um damit Grundstücke in einem anderen Industriegebiet zu kaufen und dort kompakte neue Hallen für die Produktion von Kammzügen, Strom und Wärme zu bauen. 

Damit hätte die BWK nicht nur rationeller produziert, sondern auch ihr teuer erworbenes Know-how bei der Produktion von Kammzügen und der thermischen Entsorgung von Wollwaschwasser und anderen Abfällen weiter nutzen können.

Über die Kapazität der Anlagen hätte man aufgrund der erwarteten Marktbedingungen und des vorhandenen Kapitals entscheiden müssen. Dabei hätte dann auch der Zeitpunkt eine wichtige Rolle gespielt, an dem man diese Neustrukturierung der BWK-Gruppe in Angriff genommen hätte. Das gilt vor allem für die Höhe der Beteiligung an den renovierten Immobilien, da hier anders als beim Bau einer Kämmerei oder eines Kraftwerks sehr flexible Beteiligungsgrößen möglich sind.

Das gilt unter Einschränkungen allerdings auch für die Produktionsanlagen, wenn man nicht fast ausschließlich auf die Größenvorteile fixiert ist. Wie die Beispiele von Wettbewerben zeigen, können auch Kämmereien mit einer Jahreskapazität von 10 Mio. kg Kammzügen durchaus rentabel arbeiten. 

Bei diesen Überlegungen werden viele Leser nach der Zahl der Arbeitsplätze suchen. Die liegt in den Ausgangsjahren fast zwangsläufig deutlich unter der des alternativen Weges, da die Kämmereikapazität auf ein realistische Maß reduziert wird und durch den Bau neuer Anlagen die Produktivität gesteigert werden muss, wenn der Betrieb in Europa wettbewerbsfähig sein will. 

Aber man sollte bei dieser Frage auch auf den tatsächlichen damaligen Stand bzw. den heutigen Stand sehen, denn die BWK war nicht mehr das Unternehmen des Jahres 1957 mit fast 6.000 Mitarbeitern. 

Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass nach diesem Modell die BWK auf den drei sehr unabhängigen Beinen Wollhandel- und Kämmerei, Sondermüllverwertung und Immobilienverwaltung gestanden hätte, wodurch sich das Unternehmen von der extremen Volatiliät des Wollmarktes befreit hätte.

Eine nüchterne Analyse der letzten Jahre der BWK veranschaulicht damit eine der bekanntesten Heuristiken unseres alltäglichen Entscheidungsverhaltens: Häufig ist ein Spatz in der Hand besser als eine Taube auf dem Dach. Das gilt vor allem dann, wenn das Erreichbare zwar kein großes, global aufgestelltes Weltunternehmen ist, sondern eine eher solide Firma von regionaler Bedeutung.

Die Alternative einer modernen Wollkämmerei, die weiterhin die größte und effizienteste der Welt sein sollte, war jedoch, wie die Wirklichkeit schmerzlich gezeigt hat, eine deutlich zu lange Fixierung auf einen Wunschtraum, dessen Realisierungschancen von Jahr zu Jahr schlechter wurden.



Quellen:
Becker, Klaus, Zur Lage der BWK: Mengen gut – Margen schlecht, in: Sir Charles, 22, S. 1-2.
Friedrichs, Doris, Streit um Straßennamen. Karl-Lüneburg-Platz nicht gewünscht. Ortsamtsleiter empört, in: Weser-Kurier vom 28.1.2015.
Harder, Gerhard, Wir gestalten unsere Zukunft in Bremen, Sir Charles 30, S.  1.
Harder, Gerhard, Bericht des Vorstands der Bremer Woll-Kämmerei AG
auf der Hauptversammlung am 25. Juni 1997.
Hoffmann, RainerTimmer, Günter und Becker, KlausDie umweltfreundliche Produktion von Wollkammzügen - Abwasserbehandlung bei der BWK -, Bremen o.T.
Wilken, Rolf, Vieles spricht für Blumenthal. „Zukunft Standort Blumenthal“?!, in: Sir Charles 31, S. 6.
 
 

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